Eröffnungsrede von
Bettina von Gilsa, Kunsthistorikerin M.A., Kuratorin,
zur Ausstellung von
Norbert Müller-Everling
Konkretionen des Lichts
Wandarbeiten aus Wachs
am 11. September 2022 in der
Skulpturenhalle der
Stiftung für Konkrete Kunst Roland Phleps
in Freiburg
Meine Damen und Herren,
ich freue mich, Ihnen heute die Wandarbeiten aus Wachs von Norbert Müller-Everling vorstellen zu dürfen.
Sie werden hier unten von einer raumgreifenden Installation ohne Titel aus dem Jahre 2000 begrüßt und in die Mitte des Raumes hineingezogen. Es sind drei rechteckige, weiß gestrichene unterschiedlich aufgebogene Sperrholzplatten identischer Größe, die leicht rotierend eine imaginäre Achse eines liegenden Zylinders umschließen. Sie leiten in ihrer Bewegungsrichtung direkt zur Stirnwand über wo ein rein weißes quadratisches Wachsrelief zentral die Wand beherrscht. Die Installation demonstriert die Herkunft Norbert Müller-Everlings als einen Bildhauer, der raumgreifend architektonisch konkret arbeitete. Das Licht spielt auch hier schon eine Rolle, denn der Anstrich der Skulptur ist weiß. Die weiße Farbe reflektiert und streut das Licht maximal. Die Körper erhalten durch Licht- und Schattenwirkungen die größte Plastizität.
Das weiße Quadrat aus Wachs prominent, allein und zentral an die Stirnwand gehängt, was ist es genau und was passiert hier? Es ist eine der Ausgangsformen der Wachsarbeiten Norbert Müller-Everlings! Wir sehen eine reine monolithische Wachsarbeit, gegossen aus weißen Haushaltskerzen, sehr lebendig schimmernd und farblich changierend. Bei längerer und genauerer Betrachtung erkennen wir, dass die Wachsarbeit im Zentrum etwas heller leuchtet. Diese Helligkeit wird nicht durch eine Belichtung von außen erzeugt, sondern glimmt aus dem Inneren des Wachsreliefs auf. Wie kann das sein? Norbert Müller-Everling hat wie ein Bildhauer die Form eines Kugelsegments zentral in das Wachsquadrat mit Stechbeiteln hineingearbeitet, das Wachs der Form nach abgetragen. Die Kugelform berührt in der Mitte annähernd den weiß gestrichenen Untergrund, die Wachsschicht des Reliefs ist hier am dünnsten. Wachs ist ein halbtransparentes, milchig durchscheinendes Material und eine gedünnte Wachsschicht lässt den weiß gestrichenen Hintergrund der Unterlage durchscheinen, bzw. aufleuchten. Die Lichtquelle der Wachsreliefs befindet sich innerhalb des Objekts, glimmt von hinten auf und strahlt in den Raum heraus. Mit dieser Erfahrung eröffneten sich für Norbert Müller-Everling allein mit der Materialwahl Wachs in Abhängigkeit der Formen die Darstellungen lichterfüllter Geometrien.
Norbert Müller-Everlings Konstruktionen sind konkret. Sie beruhen gänzlich auf mathematisch-geometrischen leicht nachvollziehbaren Regeln. Die quadratische Grundform herrscht vor oder es sind Rechtecke oder Kreise. Hinzu kommen die Grundfarben: Rot, Blau und Gelb. Das ist die maximale Reduktion! Form, Farbe und Licht in einen harmonischen Dreiklang zu bringen, ist sein ureigenes Ansinnen.
Wie unterscheiden sich die hier unten in der Halle gezeigten Wachsreliefs? Wie geben sie das Licht wieder? Beginnen wir hier mit diesem ersten blauen Wachsrelief auf der linken Wand. Wir sehen ein dunkelblaues Quadrat. Zur Mitte wird es deutlich lichter und heller. Der Lichtschein hat die Form eines Kreises, glüht von hinten auf. Die Übergänge zum Quadrat sind fließend diffus. Im Vergleich zum weißen Quadrat erzeugt ein monochrom dunkelblau gefärbtes Wachsrelief ein deutlich helleres Kugellicht.
Betrachten wir ein zweites Werk auf der rechten Hallenwand, das rote Relief. In ein 4 cm starkes rechteckiges Hochformat ist ein weites Kreisbogensegment als gerichteter Bahnenstrahl eingraviert. Wir können die konkave Wölbung des Kreisbogens am unteren und oberen Rand deutlich erkennen. Der Bahnenstrahl glimmt unten auf und strahlt nach oben hin immer stärker und intensiver werdend auf. Er hat eine Richtung, nimmt in der Bewegung an Intensität zu, beschleunigt quasi wie bei einem Raketenstart über das Format hinweg nach oben in den Raum hinaus.
Sie erahnen es, der konkav gekrümmte Bahnenstrahl lässt sich vielfältig variieren: er kann seine Richtung ändern und umgelenkt werden. Er kann diagonal aufsteigen. Er kann auch sehr gleichmäßig abstrahlen und über zwei Formate hinwegspringen, Grenzen und Lücken überspringen und abrupt und scharf abgebremst werden.
Wie werden diese Lichtphänomene erzeugt? In ein homogen durchgefärbtes Wachspanel wird in dieser ersten genannten Werkgruppe mit gekrümmten Kugel- oder Bogensegmenten hineingearbeitet. Das Licht scheint am gedünnten Scheitelpunkt, dem annähernden Berührungspunkt bzw. -linie zum Untergrund am hellsten auf und nimmt zu den Randbereichen der Binnenform sukzessive und diffus ab. Es sind weiche fließende unscharfe Übergänge. Harte scharfe kontrastreiche Übergänge entstehen nur dort wo das Tiefenlicht auf einen scharfen geraden Schnitt zur vorderen Ebene trifft.
Jetzt gibt es in der unteren Halle - und auch oben auf der Galerie - noch eine weitere Gruppe, Werkgruppe 3 genannt. Worin unterscheidet sich diese von der ersten? Der Lichtstrahl ist schmaler, konzentrierter, schärfer und wirkt dadurch im Kontrast zu seiner Umgebung heller und intensiver. Hier bei der roten Arbeit auf der rechten Wand und oben auf der Galerie gelingt es Norbert Müller-Everling sogar einzelne sich kreuzende Lichtlinien fein aufblitzen zu lassen. Sie sind feiner und präziser, weil zur Einarbeitung der Formen mit V-förmigen engen und weiten Winkelflächen in das Wachs hineingearbeitet wurde. Ist der Winkel weit, ist der Lichtverlauf weiter. Ist der Winkel spitzer, wird der Lichtstrahl enger, konzentrierter. In dieser Werkgruppe kann die Lichtintensität noch einmal gesteigert, die Hell-Dunkelkontraste scharf oder weich fließend bestimmt, die Richtung innerhalb der Form auch gewechselt werden.
Meine Damen und Herren, ich denke, der Titel der Ausstellung "Konkretionen des Lichts, Wandarbeiten aus Wachs" wird dadurch erklärt. Es geht um die Erzeugung, Lenkung und Verdichtung des Lichts mittels einfacher konkreter geometrischer Formen. Die Farbe kann im Kontrast zum weißen Untergrund das Lichtphänomen noch verstärken und unterstreichen.
Die gelb-weißen Wachsarbeiten oben auf der Galerie nehmen innerhalb des Œuvres Norbert Müller-Everlings eine Sonderstellung ein. Sie gehören zur Werkgruppe 2. In dieser Werkgruppe werden meistens in eine ungefärbte Paraffinplatte sowohl von vorne als auch von hinten gelbes Wachs als Linien oder Flächen eingelassen. Es entstehen so diffuse, blassere Zonen im Kontrast zu scharf begrenzten kräftigeren. Die geometrische Formensprache ist reduziert auf wenige Elemente, wie Rechtecke, Quadrate und Linien in horizontaler und vertikaler Ausrichtung. Die Kompositionen beruhen auf klaren Maßverhältnissen, insbesondere dem goldenen Schnitt.
Die gelben Linien dieser Reliefs können als Lichtstrahlen gelesen werden. Sie liegen entweder frei und scharf an der Oberfläche oder aber die gelben Linien liegen in der Tiefe unscharf verblasst hinter dem matten milchigen Wachs. Durch gerade und schräg gesetzte Schnitte können verschiedene Ebenen in der Fläche freigelegt werden. Gerade Schnitte erzeugen harte scharfe Übergänge, schräge Schnitte weiche sukzessiven Übergänge. Die Linie kann rechtwinklig abknicken, über das quadratische Format hinaus auf das nächste Quadrat springen und dort fortgesetzt werden.
Die drei roten Wachsarbeiten oben rechts auf der Galerie eröffnen mit dem Spiel von quadratischen farbigen Flächen noch ein weiteres spannendes Kapitel. Die Ausgangslage bildeten drei identische Motive und Formate. Sie wurden im goldenen Schnitt auf der linken Seite zerteilt und vertikal um 180 Grad von hinten nach vorne geklappt und wieder zusammengesetzt. Die drei Versuche die Ausgangsform wieder herzustellen gelingen nicht, die Form bleibt asymmetrisch. Ein ganz spannendes Feld. Mehr dazu behandeln wir im Sonderprogramm am 6.11. im Künstlergespräch "Geometrie in der Kunst".
Ich komme zum Schluss:
Norbert Müller-Everlings Wachsreliefs wollen genau betrachtet werden. Der Betrachter soll sich auf die Wirkung des Lichts einlassen. Es ist ein positiv aufsteigendes oder aber fortlaufendes Licht, allen Umwegen, Unterbrechungen, Dämpfungen und Lücken oder aber Hindernissen zum Trotz. Wie schön!
Lassen Sie sich durch das Licht anregen und ihre Gedanken wandern. Dazu abschließend ein kleiner Text von Norbert Müller-Everling:
Licht ist das zentrale Ereignis meiner Arbeiten. Ich empfinde es nicht lediglich als ein physikalisch-optisches Phänomen, sondern als eine seelische-geistige Qualität. Es ist für mich verwandt mit dem inneren Licht oder auch dem göttlichen Licht der spirituellen Traditionen.