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STIFTUNG FÜR KONKRETE KUNST ROLAND PHLEPS
FREIBURG-ZÄHRINGEN, POCHGASSE 73
 
 

 

Ansprache von Dr. Uwe Wieczorek anlässlich der Ausstellungseröffnung

Gottfried Honegger
"Die Poesie der Geometrie"

am 6. Juni 2010 in der Skulpturenhalle der
Stiftung für Konkrete Kunst Roland Phleps in Freiburg

 

Wer sich auf Gottfried Honegger als Person einlässt, der muss auf Unbequemlichkeiten gefasst sein, denn ihm eignet ein angriffslustiger, durch Alter und Erfahrung nur unwesentlich gemilderter Widerspruchsgeist. Wem das nicht gefällt, der möge den Kontakt zu ihm meiden und sich ganz auf sein Werk konzentrieren, denn hier zumindest ist alles wohlwollend harmonisch, heiter entgegenkommend, mitunter unverhofft schön und poetisch. Doch gehört Honegger nicht zu jenen Künstlern, bei denen Person und Werk getrennte Wege gehen. Im Gegenteil: Sieht man das eine recht, sieht man das andere auch.

Schauen wir also zunächst auf die Person, den Menschen Gottfried Honegger. Sein Leben umspannt die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum heutigen Tag, nach Jahren fast 93 an der Zahl. Er ist älter als Picasso, älter auch als Tizian und Michelangelo, denen ein langes Leben vergönnt war, älter auch als Degas und Rodin, die beide in dem Jahr starben, als Honegger geboren wurde. Aber Honegger ist nicht nur älter an Jahren, auch sein Wissens- und Erfahrungshorizont ist um ein Vielfaches weiter als der seiner ihm vorausgegangenen Künstlerkollegen, denn der Wandel der Welt, die Wunder der Wissenschaft, die Wechsel der Paradigmen, haben sich im vergangenen Jahrhundert in schnellerem Rhythmus ereignet als jemals zuvor. Die Schlacht um Verdun war eine andere als die um Kabul, und nicht mehr die im Bleisatz erstellte Tageszeitung, sondern das elektronische Internet informiert uns heute rund um die Uhr sowohl über die Entstehung der Milchstraße als auch über den neuesten Stand der Stammzellenforschung.

Honegger wuchs auf in der großartigen alpinen Natur des Engadins, im romanischen Sprachraum. Er lernte auch den sachlichen Pragmatismus, den ökonomischen Rationalismus seiner durch Zwinglis Reformation geprägten Geburtsstadt Zürich kennen, wo er derzeit wieder lebt und arbeitet. Amerika gab in den 50er und 60er Jahren wichtige Anstöße, schenkte ihm den Mut zu radikalen künstlerischen Entscheidungen, schenkte ihm die erste Ausstellung bei Martha Jackson in New York, Gedankenaustausch mit den Malern Sam Francis und dem großen Mark Rothko, mit dem Sammler Philipp Thompson, mit dem Direktor des Museum of Modern Art Alfred Barr und anderen Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft und Politik. Zur langjährigen Wahlheimat machte er sich Frankreich, die Städte Paris und Cannes, wo die Sinne und die Vernunft eine schöne Synthese bilden. Die Alte und die Neue Welt hatten prägenden Einfluss auf seine Wahrnehmung. Sie lehrten ihn vergleichendes Sehen. Und auch sein Denken schöpft gewinnbringend aus den Kulturen beider Kontinente.

Honegger hat sich, als gelernter Grafiker wie auch als freischaffender Künstler, stets modern, stets zeitgemäß definiert. Er hat bis zum heutigen Tag das Bedürfnis, sich einzumischen, seinen Lebensraum gedanklich und künstlerisch zu gestalten, ihm ein ganz den aktuellen menschlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten angemessenes Gesicht zu verleihen, im privaten wie im öffentlichen Raum. Er hat das Bedürfnis, zu widersprechen, wo immer es ihm nötig erscheint. Sein Standpunkt ist mitunter kompromisslos radikal. So äußert er beispielsweise, die Ästhetik des 21. Jahrhunderts möge sich durch »extreme Logik«, durch »extreme Präzision«, durch »extreme Anonymität« auszeichnen und somit zum Spiegelbild des gegenwärtigen Produktdesigns sowie der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse werden. Man hört ihn gelegentlich auch sagen, dass alle Geschichte hinter uns liege und daher nicht mehr von Interesse sei, sofern sie aber noch Einfluss auf unser Denken habe, gar verderblich wirke. Es zähle allein die Gegenwart und die Zukunft – daher auch seine eingefleischte Skepsis gegenüber Kunsthistorikern, also Personen wie mir, denen er gerne beweist, wie unzeitgemäß sie sind. Und doch: Honegger beruft sich u.a. auf Marx, Nietzsche und Heidegger (nicht gerade die jüngsten Philosophen!), führt häufig Leonardo da Vinci im Munde (der auch schon lange tot ist!) und hat sich im französischen Nevers sogar auf ein Bündnis mit der Gotik, dem Mittelalter, eingelassen, indem er die dortige Kathedrale, anstatt sie einfach abzureißen, mit neuen Glasfenstern versorgte. Und hin und wieder nimmt er auch, wenngleich nur widerwillig, kunsthistorische Kenntnisse dankbar entgegen. Natürlich sind solche Inkonsequenzen ärgerlich, aber schon der 1898 verstorbene Schweizer Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer, der gemeinsam mit Thomas Mann auf dem Friedhof von Kilchberg bei Zürich ruht, sagte: »...ich bin kein ausgeklügelt Buch, / Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch...!« Und so bekennt Honegger, der doppelsinnig im Widerspruch lebende freimütig: »Auch ich habe Heimweh ... Auch ich verstehe vieles, ja sehr vieles nicht, was heute Gültigkeit hat.« So erlebe ich Gottfried Honegger zugleich als robusten Aufklärer und als dünnhäutigen Grübler, als optimistischen Gesellschaftsmenschen und auch als pessimistischen Einsiedler, denn er ist, wo das Virtuelle zunehmend an die Stelle des Realen, das Surrogat an die Stelle des Authentischen rückt, in echter Sorge um das für ihn Wesentliche: die humane Kreativität. Deshalb geißelt er den Kommerz und den Kitsch. Deshalb liebt er die Kunst und die Kinder. Ihnen hat er sich jahrzehntelang unermüdlich in Tat und Wort gewidmet, denn sie sind der Stoff, aus dem Zukunft erwächst. An sie glaubt er mit zutiefst berechtigter Unerschütterlichkeit. Soviel zum Menschen Gottfried Honegger, dem charmanten Querulanten, der ein Leben im Widerspruch mit der Freude am Widerspruch glücklich zu verbinden weiß.

Die hier in Freiburg ausgestellten Werke führen uns zurück bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Gegenständliches Abbilden wird schon Anfang der 50er Jahre, als Honegger, der gelernte Grafiker, das Malen zunehmend künstlerisch zu verstehen beginnt, langsam aber nachhaltig überwunden. Vorsichtig ertastet er, zunächst in kleinen Formaten, was aus der sichtbaren Welt ins Bild eingebracht werden könnte. Es sind in lyrischer Stimmung erfasste Objekte der Natur, die zu Zeichen und Metaphern umgewandelt werden. Und es scheint, als schaue Honegger ebenso auf wie in die Dinge, als versuche er, äußere Form und innere Struktur simultan zu ergründen, als umschließe sein Blick die Objekte und zerlege sie zugleich. Es scheint, als habe sein Auge eine sinnliche und eine analytische Seite. Schon während seiner im Engadin verbrachten Kindheit konnte er die Wahrnehmung sowohl an weiträumigen Gebirgspanoramen als auch an kleinteilig geschuppten Tannenzapfen schulen. Er konnte beobachten, dass sich die Natur in ebenso geordneter wie chaotischer Gestalt zeigt. Alles wurde mit unbefangener Neugier aufgenommen und bildete die Grundlage für eine das ganze spätere Werk prägende Formvorstellung. Die aus der Natur gewonnenen Anschauungen erweiterten sich durch die Betrachtung von Kunst. Honegger wurde auf die Kubisten aufmerksam, auf Picasso, dessen Werke er schon 1932 im Züricher Kunsthaus sah, vor allem aber auf Juan Gris, der ihm in der Zeit seines malerischen Frühwerks »ein Vorbild« war. Er »liebte seine Poesie, seine Wärme«. Wie dieser sondiert er das breite Spektrum malerischer Qualitäten zwischen Farbe und Form; Fläche und Raum; Realität und Fiktion; zwischen sinnlich Erlebtem und gedanklich Konzipiertem.

Noch vor 1958, vor seinem Aufbruch nach New York, fand Honegger zu seinen bis in die 90er Jahre hinein geschaffenen und hier in dieser Ausstellung substantiell vertretenen Tableaux-Reliefs, den Bildreliefs, die in den frühen Gemälden im Kern schon angelegt waren – in jenen aus Naturformen abgeleiteten Falten- und Zellenmustern, die er nun in plastischen, auf die Leinwand applizierten Karton übertrug und somit den Schritt von der Illusion zur Realität, von der abstrakten zur konkreten Gegenstandslosigkeit vollzog. Fortan verstand Honegger sein Werk im Sinne der Konkreten Kunst, im Sinne seiner älteren Züricher Kollegen Camille Graeser, Richard Paul Lohse und Max Bill, deren Arbeiten er schätzte und die für ihn die Zukunft, das »Neue« bedeuteten, wenngleich das Neue nicht voraussetzungslos war, denn der Maler Theo van Doesburg hatte schon 1924 den Begriff der »Konkreten Kunst« geprägt. Demzufolge gibt es keinen Hintersinn und keine Metaphysik. Was das Auge sieht, ist das, was vom Künstler gemeint ist: eine konkrete Linie, eine konkrete Form, eine konkrete Farbe, die auf nichts anderes als jeweils auf sich selbst verweist.

Von Anfang an verbindet sich das Konkrete bei Honegger, wie auch bei vielen anderen Künstlern dieses Genres, mit der Geometrie. Wer ihn heute in seinem Züricher Atelier besucht, der liest dort den Spruch: »Wenn Du nicht Geometer bist, trete nicht ein!«, so wie er einst über dem Eingang der Akademie Platons in Athen stand. Die Geometrie ist für ihn das schlechthin konstruktive Element des Lebens. In allen natürlichen Erscheinungen entdeckt er ihre formbestimmenden Gesetze, ohne die der ganze Kosmos, die weltliche Ordnung, in sich zusammenstürzte. Schon seit Ende der 50er Jahre hat Honegger daher Waagrechte, Senkrechte und Diagonale; Quadrat, Kreis und Dreieck; Kubus, Kugel und Zylinder zum Ausgangspunkt seiner konkret-gegenstandslosen Gemälde, Plastiken und Skulpturen gemacht. Doch ist seiner Wahrnehmung, wie schon angedeutet, nicht entgangen, dass das Leben, dass die Natur den eigenen Gesetzen gerne zuwider handelt, dass sie sich selbst gerne widerspricht: durch Zufall und Ungenauigkeit. Sie bilden den unentbehrlichen »Notausgang aus dem Absoluten«, aus der Erstarrung. So hat Honegger in seinen Werken, sehr im Unterschied zu den Züricher Künstlerkollegen, doch ohne die Geometrie dabei zu verraten, den Zufall gesucht und das Ungenaue, das »Unpassende« zugelassen – etwa durch das Auswürfeln von Maßverhältnissen und die Anerkennung daraus resultierender Willkürlichkeiten. Seine Freude am Würfel ging sogar soweit, dass er ihm beispielsweise die Auswahl von Speisen beim Besuch eines Restaurants überließ. Nach eigener Aussage habe er damit niemals schlechte Erfahrung gemacht, denn der Zufall sei ihm stets, oder doch zumeist, ein guter Bundesgenosse gewesen. Bei der Auswahl seiner Freunde und Mitmenschen indessen hat er sich, soweit ich weiß, lieber auf sein Urteilsvermögen verlassen. Honegger ist also ein homo ludens, der sich nicht über die Dinge erhebt, sondern auf Augenhöhe spielerischen, poetischen Umgang mit ihnen pflegt. Er weiß, dass Ordnung und Genauigkeit in letzter Konsequenz kalt und totalitär sind.

Den in Zürich eingeschlagenen Weg begann Honegger in New York zu festigen. Hier fand er schließlich auch den Mut zum großen Format und zur radikalen Reduktion des Kolorits auf eine einzige Farbe. Er fand, in der Führung des Pinsels nicht wild gestikulierend sondern stets maßvoll zurückhaltend, zur monochromen Malerei. Beschränkte er sich anfänglich, vor allem in den USA, auf die Farbe Rot, so traten später, in Paris und Zürich, Blau, Grün, Gelb, Weiß, Grau oder Schwarz bedeutungsgleich hinzu. Gelegentlich wandelte er den Umriss seiner Bilder, vielleicht im Dialog mit dem amerikanischen Maler Frank Stella, vom Rechteck zur »shaped canvas«, denn es war ihm nun auch daran gelegen – und wir begegnen diesem Bedürfnis noch in seinen jüngsten Arbeiten –, das in sich abgeschlossene Tafelbild zu überwinden, die Bildform zu öffnen und die dahinter liegende Wand in das Werk einzubeziehen, die Wand »nicht nur als Bildträger, sondern als Partner des Bildes« zu verstehen. Mit seinen Tableaux-Reliefs, d.h. mit konkreter Gegenstandslosigkeit, Monochromie und »shaped canvas« ist Honegger auf der Höhe der Zeit, in der er sie schuf. Mit seiner »Zufalls-Mathematik«, seiner »Logik« des Würfels hat er sie um einen spielerischen und eigenständigen Beitrag bereichert.

Einer dritten Werkgruppe gelte kurz noch unsere Aufmerksamkeit, wenngleich sie in dieser Ausstellung nur mit einer 16-teiligen, kleinformatigen Serie vertreten ist: den Pliagen oder Faltskulpturen, die das Ergebnis einer gestalterischen Läuterung sind, einer geistigen Leichtigkeit und Eleganz, die der mediterranen Atmosphäre der Côte d’Azur geschuldet sind. In Cannes hat Honegger 1997, als Achtzigjähriger, erstmals Plastiken geschaffen, die nicht, wie seine früheren Arbeiten, aus voluminöser Masse mit unsichtbarem Innenleben, sondern aus offen dargelegten Flächen bestehen. Es kommt Honegger darauf an, die am Material vollzogene Gestaltung, das Falten und Walzen, das Schneiden und Stanzen, das Schweißen, Schrauben und Verstiften durchschaubar zu machen. Dieser Wunsch nach „Offenlegung“ wurzelt in einer ethischen Haltung, die vom Kunstwerk erwartet, dass es sich zur offenen und demokratischen Gesellschaft analog verhält. Man sieht den Pliagen an, dass sie vor ihrer Fertigstellung in Eisen, Stahl oder Aluminium als Modell in Karton entworfen wurden, denn auch die ihnen zugrunde liegende Geometrie lässt die Ungenauigkeit der frei mit der Schere schneidenden Hand erkennen. Freilich muss genau hinschauen, wer sie entdecken will: diese kleinen subversiven Abweichungen von dem, was Zirkel und Lineal bewirkt hätten. Das Material darf, ja soll sich der Idee widersetzen, der Stoff dem Geist, denn, so schreibt Friedrich Hölderlin, »würde der Geist von keinem Widerstande beschränkt, wir fühlten uns und andere nicht«. Auf diese Pliagen fällt unser Blick wie auf Blüten des Alters, auf ein tatsächliches Alterswerk, das nur wenige Künstler vorzuweisen haben – entweder, weil ihnen die Gnade des hohen, freilich nicht immer gnädigen Alters verwehrt war, oder aber die dazu notwendige Schöpferkraft. Es ist schön zu sehen, mit welcher Poesie, mit welcher Heiterkeit die Pliagen den sie umgebenden Raum erfüllen, ohne von ihm Besitz zu ergreifen. Es ist, allem Widerspruchsgeist zum Trotz, die Heiterkeit eines gereiften Auges, dem die Frische jugendlichen Staunens erhalten geblieben ist. Wir wünschen Gottfried Honegger und uns, dass er sich noch lange dieser Frische erfreuen möge, denn: Was bleibet, stiften die Künstler!